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Thema: 1971 Ungarn - Ein Hauch vom Westen

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  1. #1
    spotty Gast

    Standard 1971 Ungarn - Ein Hauch vom Westen

    Nun will ich also auf meine Art Dank sagen für diesen Thread, der bestimmt mehr Liebhaber als Kritiker finden wird ...
    Leider gab es damals die Digitaltechnik noch nicht, und weil ich jetzt nicht täglich den Scanner traktieren möchte, habe ich die ohnehin nicht mehr so tollen s/w Aufnahmen einfach abfotografiert. Das erklärt den komischen hellen Fleck auf den Fotos!
    Und am Ende bemühe ich mich um noch ein paar Netzverlinkungen, damit man meine Erinnerungen auch noch objektiver vertiefen kann.

    Starten möchte ich mit ersten Erinnerungen an Ungarn, meinem Lieblingsland während der Sozialismusphase auf deutschem Boden. Gut, dass man an manchen Dingen hängt und diese lieber im Keller verstauben als recyclen lässt ...


    Juli 1971
    Ungarn ... im Westen des Ostens

    Im März bin ich volljährig geworden, und so verhallen die Argumente der Eltern, dass man als Lehrling nicht nach Ungarn in den Urlaub fliegt, unerhört in der Weite meiner ohnehin Kontra-Lebensphilosophie.
    Das Lehrlingsgeld (ungenügendes Engagement für das „System“ erzwingen den Weg zum Abitur über eine Baufacharbeiterausbildung) wird eisern gespart, die Erträge aus illegalem Plattenhandel nur teilweise für Zigaretten ausgegeben ... und so kann ich also bei der Interflug für 152.-Ostmark Barzahlung den Traumtrip in die ungarische Hauptstadt buchen.

    Mein Freund Stefan tickt auf meiner Welle (wir haben bereits diese aktenkundige und karrierehinderliche Grenzverletzung gemeinsam erlebt – aber das ist ein anderes Thema), und so laufen wir am Abend des 26.Juli über das Rollfeld in Dresden-Klotzsche zum viermotorigen Silbervogel aus russischer Produktion.
    Das Flaugefühl im Magen verstärkt sich mit dem Näherkommen der Gangway ebenso wie der gefühlte Herzschlag, denn es ist „das erste Mal“. Keiner will das Angstgefühl vor dem Fliegen zugeben, und ich arrangiere es irgendwie, dass ich NICHT am Fenster sitzen muss.
    Die Gardinen (die gab es in der IL 18 tatsächlich!) werden zugezogen, ich versuche – sicherlich mit kläglichem Erfolg – nach außen cool zu wirken und dann sind die vier Motoren auch schon am Dröhnen. Mit fixierten Bremsen zittert das Flugzeug am Beginn der Startbahn, dann wird der Lärm ohrenbetäubend ... und als wir mutig die Gardine beiseite ziehen, sind wir schon ohne Bodenkontakt.
    (Die Steigrate der Propellermaschine ist natürlich mit heutigem Fluggerät nicht vergleichbar!)

    Knapp 90 Minuten dauert der Flug, und was in der Erinnerung haften geblieben ist, sind diese lärmenden Triebwerke und die Tatsache, dass im Landeanflug auf Budapest mein Freund die Speitüte bemüht. Haben wir zuviel geraucht? Ist es die Aufregung? Jedenfalls bin ich erleichtert, als das Holpern der Räder Bodenkontakt signalisiert.

    Der Flughafenzubringer bringt uns ins Stadtzentrum, und von da aus – so habe ich in wochenlangen akribischen Vorbereitungen recherchiert, fahren wir einfach mit der alten U-Bahn (die wurde bereits 1896 in Betrieb genommen und ist somit nach London die zweitälteste Europas --- und mir scheint, das sind noch die Originalwagen) ein paar Stationen unter der Straße in Richtung des Heldenplatzes, wo wir hoffentlich am späten Abend noch in einem Studentenwohnheim willkommen sind.

    Mein Straßenkarten-Auswendig-Lernen zahlt sich aus, denn schnell haben wir das Haus in einer dunklen Seitenstraße gefunden und finden Platz in einem 6-Mann-Zimmer. Die Schläfrigkeit der Zimmerkollegen verfliegt, als mir beim Ausziehen der bereits vergessene Hunni aus der Socke ins Zimmer fliegt (es gab damals einen Tagesumtauschsatz, der später auf 20 Ostmark beschränkt wurde ... und es gab irgendwie halblegale, einem Zeitungskiosk ähnelnde Buden, die tatsächlich auch an Ostmark interessiert waren, und für 100 derselben dann 400 Forint ausgaben).
    Das umher fliegende Geld erzeugt allgemeine Heiterkeit, und damit ist das Eis auch schon gebrochen.
    Wir fühlen uns die Folgetage wohl in der Runde junger Leute, allesamt aus dem Osten, und das nicht nur, weil die Nacht mit nahezu unglaublichen 7,50 Ostmark berechnet wird ...

    Budapest ist nicht nur für den jugendlichen Touristen aus dem Osten Deutschlands eine beeindruckende Stadt mit ungleich mehr internationalem Flair, als man es im Ulbricht-Deutschland je erleben konnte.
    Strassenbahnen, Autobusse und PKW drängeln sich lärmend über die zu engen Straßen von Großem und Kleinem Ring, die von Gebäuden aus der Jahrhundertwende gesäumt werden.
    Diese betagten Mietskasernen mit ihren schattigen Hinter- und Innenöfen sind ebenso Ziel der Besucher aus Freundesland (zu dieser Zeit wurde ja die plakative und primitive Klassenfeindpflege mit Hingabe betrieben) wie die eigentlichen Sehenswürdigkeiten der ungarischen Hauptstadt - denn in den Geschäften, und davon gibt es unzählige, findet man auch Westschallplatten, Jerry Cotton Hefte und Strickjacken mit Ferrari Pferdchen. Also Dinge, die dem normalen DDR Bürger im Alltagsfall nicht unter die Augen kamen.

    (Das trifft übrigens auf Erdnüsse genau so zu – und wenn man sich dann in einem Gieranfall gleich mal ein Kilo kauft und das „am Stück“ vertilgt, dann muss man sich auch nicht wundern, wenn derartiges Verhalten den gewöhnlichen Ostmagen überfordert ... womit ich gerade feststelle, dass ich offenbar doch schon seit frühester Jugend irgendwie vom Koch-Kulinar-Virus befallen bin)

    Außer den für die Altersgruppe 18 doch ungewöhnlichen Ladenbummeln bleibt aber auch noch Zeit für die eigentlichen Sehenswürdigkeiten der Donaumetropole, und die gibt es natürlich reichlich.
    Die geliehene Spiegelreflexkamera (damals hieß es, dass Praktica Kameras Weltspitze darstellen – allerdings war dies die subjektive Einschätzung der „Medien“ im Tal der Ahnungslosen) dokumentierte die Besuche auf dem majestätischem Gellertberg und der Fischerbastei (die wohl auch gut als Vorläufer von Disneyland durchgehen würde) und den sich dort eröffnenden phantastischen Panoramen ...

    Die Brückenlandschaft der träge und gar nicht blau dahin fließenden Donau ist auch heute noch beeindruckend, und gerade die alten Flussquerungen wie Kettenbrücke und Freiheitsbrücke verbreiten einen Charme, den neumodische Stahlbeton- und Stahlkonstruktion im Regelfall nicht erreichen.

    Das Sprachwirrwarr an diesen exponierten Stellen vermittelt ein nie gekanntes Gefühl von Internationalität, und spätestens bei den abendlichen Konzerten am Fuße des Burgberges verschwinden Klassen- und Rassen- und Systemunterschiede in einem verblassenden Stückchen Welt, das plötzlich fern und keineswegs Heimatgefühle auslösend erscheint.
    Die ungarischen Supergruppen wie HUNGARIA und OMEGA knallen genauso Muskelzucken verursachend auf unsere Ohren wie andere, und unbekannte Bands. Und wir kommen mit Schweden ins Gespräch (wie gut, dass ich wenigstens in Englisch mein schulisches Engagement übertrieben hatte) und mit Amis, die eine Weltreise per Motorrad unternahmen ... und natürlich mit Leuten aus dem anderen deutschen Teil. Friedlich alle und weltoffen, und so gar nicht dem von frühen Kindesbeinen an von Staats wegen vermittelten Klischee entsprechend!


    Fortsetzung folgt

    Internetverweise:
    *DDR Interflug*
    *Metro Budapest*
    *Tal der Ahnungslosen*
    *Budapest*
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