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spotty
6.March.2008, 11:01
Die 68er ... auch für uns drüben war das ein bewegtes Jahr, ist es doch immer noch untrennbar mit den Gedanken an den gescheiterten Versuch der Tschechen verbunden, sich aus der sowjetrussischen Bevormundung zu lösen ... insofern gesehen ist es keine wirkliche Urlaubsgeschichte, und trotzdem gehört sie wohl doch hier hinein. Es würde mich freuen, wenn es trotz des ernsten Hintergrundes trotzdem ein wenig Spaß bereitet.


Tschechoslovakei 1968 - Der Blätter des Prager Frühlings welken

Dieses Jahr sollte für meine ganz persönliche Sicht auf das politische Weltgeschehen einschneidende und andauernde Bedeutung haben.

Die Reisemöglichkeiten erschöpften sich im so genannten sozialistischen Lager, und so waren folglich überwiegend unsere benachbarten polnischen und tschechischen Blockfreunde eine der wenigen Optionen für Auslandsurlaub. Dass dies dann in nicht wenigen Fällen in Einkaufstourismus ausartete, lag wohl an den ganz speziellen Problemen dieser sozialistischen Mangelwirtschaft.

So wichtige Dinge wie Westkaugummi oder aufpressbare Tatoos waren für einen Fünfzehnjährigen Motivation genug, um zwei Wochen der langen Sommerferien in einem privaten Vulkanisierbetrieb die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen im eigenen Leib zu verspüren --- ich war eher zart gewachsen und verfluchte die schwere Last der Gummirollen. Nur der Gedanke an die wirtschaftliche Urlaubsunabhängigkeit ließ mich die Quälerei ertragen.
Die 140 Ostmark honorierten meine Schinderei natürlich unzureichend, zumindest sehe ich das auch heute noch so ... aber zum Umtauschkurs gab es dafür 420 Kronen. Und dafür wiederum konnte man sich reichlich mit Kaugummi und Pepsi Cola und Pseudotatoos eindecken.

Irgendwann im Frühjahr des Jahres 1968 bemerkte ich dann in der hochwertigen heimischen Home Entertainment Ausstattung (bestehend aus einem Röhrenradio und mittels hübscher Kabel zusätzlich verteilte Lautsprecherboxen in den anderen Wohnräumen) zunehmend Informationen, dass irgendwas im tschechischen Busche sein musste. Weil es Informationen aus Feindesland waren – denn wenn wir auch keine Chance auf Westfernsehen hatten, die Mittel- und Kurzwellenfrequenzen reichten durchaus bis in dieses Tal der Ahnungslosen!

Mein Interesse für (Welt)Politik entwickelte sich bereits mit dem Kennedy Mord. Natürlich bekam ich auch bei den Familienfeiern mit, dass meine Familie wohl zu den wenigen 2% der Bevölkerung gehört haben muss, die bei „Wahlen“ das übliche Gegenstimmenpotential ausmachten ... (Das stimmte leider nicht, denn nur im engsten Kreis wurde mutig opponiert, und das war wohl auch der DDR typische Regelfall)

Die Tschechen (exakt: Tschechoslovaken) versuchten sich also an diesem „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“, was in dieser Formulierung im Umkehrschluss interessante Schlüsse auf den „normalen Sozialismus“ assoziiert.
Es war jedenfalls spannend zu erfahren, dass die Abnabelung vom Moskauer Diktat ebenso auf der offiziellen Tagesordnung erschein wie eine Liberalisierung gegenüber dem Westen – und sicherlich war es zu diesem Zeitpunkt Wunschdenken, dass so eine Entwicklung innerhalb des Ostblocks toleriert werden könnte. Doch die Hoffnung starb schon damals auch am Schluss ...

Der Zufall wollte es, dass just in jenen bewegten Zeiten meine Eltern einen Urlaubsplatz in Zentralböhmen, dem kleinen Ort Bela, ergattert hatten und wir sozusagen vor Ort die Veränderungen im Alltagsleben wahrnehmen konnten. Dachten wir. Denn das wahre tschechische Leben spielt nicht in einem kleinen böhmischen Örtchen – aber Prag war nur eine Autostunde entfernt. Und so machten wir uns auf die Suche nach dieser neuen Form von Sozialismus.

Mit dem Trabant Kombi und mächtigen 23PS auf beiden Vorderrädern tuckerten wir also in die schon damals sehenswerte Metropole an der grauen Moldau. Die Parkgebühr von 24 Kronen (Kurs zur Ostmark 1 Mark = 3 Kronen) setzte ein erstes großes Ausrufzeichen und dann schlenderten wir halt über die Wege, die auch heute noch von nahezu jedem Touristen begangen werden: Wenzelplatz, Altstädter Rathaus, Karlsbrücke, Hradschin ... später ungezählte Male wiederholt (zugehörige Begründung im zweiten Absatz!) und doch immer wieder faszinierend, die Stadt der 1000 Türme.

Was mir in der Erinnerung geblieben ist: Westkaugummi und Cola sowieso, und dazu noch die lockenden Anpreisungen diverser Etablissiments im Bereich des Wenzelplatzes – da waren doch tatsächlich nur sparsam bekleidete Damen zu sehen. Ich war fünfzehn und das war dann schon so ein Geschmack von Freiheit ... Fast glaube ich, aber beschwören würde ich es nicht, dass es auch ein paar Westzeitungen zu kaufen gab. Nüchtern und mit Abstand betrachtet, war alles jedoch wesentlich weniger spektakulär, als man sich das vielleicht vorstellt.

Wenige Tage später wurden wir nachts durch das dumpfe Brummen von Flugzeugen (oder waren es gar auch Panzer?) gestört, und schon früh am Morgen kam völlig aufgeregt Frantisek, der Chef des Campingplatzes, an unsere bescheide Holzhütte und erklärte:
„Herr Inschenerr ... die Russen haben uns überfallen!“
Diese Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und da offenbar auch NVA Truppen zu den Invasoren gehörten (die Informationen dazu sind auch heute noch widersprüchlich), war es nur logisch, dass es mit tschechischer Freundlich- und Gemütlichkeit schlagartig vorbei war.

Mein Vater, sonst nicht gerade der häusliche Typ, ging selbst einkaufen --- nachdem wir als Deutschsprechende unverrichteter Dinge wieder aus dem Laden abziehen musste. Er aber konnte französisch (und wart vorher da nie gesehen), und so konnten wir zumindest die befürchtete Ernährungszwangslage meistern.
Meine Eltern entschieden richtig, nicht ausloten zu wollen, wie differenziert die fassungslosen und ebenso traurig wie wütenden Tschechen zwischen DDR-Staat und „normalen“ DDR-Bürgern bewerten würden – und so waren wir bereits einen Tag nach der Invasion der „Bruderarmeen“ (ist doch eigentlich wie im normalen Familienleben: der stärkere Bruder hat das Sagen ... und der hieß in diesem Falle Leonid Breshnew und hatte keine Lust auf Familienstress) auf dem Rückweg.

Der Freifahrtsschein durch tschechisches Gebiet war ein handgeschriebener Zettel an der Heckklappe des Autos, wo wir der personifizierten Verkörperung des Prager Frühlings, den Herren Dubcek und Svoboda (pikanterweise war dies nicht nur der Name des Präsidenten, sondern auch die Übersetzung für Freiheit) huldigten ... und der dann wohl kurz vor der Einfahrt in den DDR Alltag entfernt wurde.

Kaugummi, Tattoos und Striptease Lokale in Prag verblassten schnell, um so mehr prägten sich weinende Männer und konsterniert die Besetzung und Besatzung nicht begreifende Menschen in der Erinnerung ein.
Ich malte mir eine kleine tschechische Fahne, steckte diese in eine durchsichtige Hülle und tauschte den goldenen Colt an meiner Halskette gegen diesen Anhänger. Und war plötzlich mit massiven Gesprächsbedarf der systemtreuen Lehrer konfrontiert. Natürlich fand ich mich schon mal grundsätzlich toll, dermaßen im Mittelpunkt zu stehen (und mein Ansehen bei den Gleichaltrigen erlebte wohl auch einen positiven Schub) --- ich war also ausreichend motiviert, „das Ding“ durchzuziehen, und das tat ich dann auch.

Die Aufforderungen, „das Ding“ da abzumachen (schon interessant, dass der Colt offenbar weniger gefährlich eingestuft wurde als eine ganz normale Landesfahne, dazu noch vom Brudervolk), ignorierte ich, während der elterlichen Befragung machte ich mich unauffindbar und letztendlich war ich Stolz, dann mit einem Direktorenverweis wegen Nichtachtung der Anweisung des Lehrkörpers bedient zu werden.

Dass dann später noch eine unwissentliche Grenzverletzung in Berlin meine Akte passend dazu ergänzte, ist wohl auch eine Erklärung dafür, dass der Unrechtsstaat nie interessiert war, mich zu einem längeren Armeedienst zu überreden ... und dass in den Weg zum Studium reichlich Hindernisse und Stolpersteine gelegt wurden.

Mein ganz persönliches Bild von der angeblichen Überlegenheit des Systems, der Menschlichkeit desselben erhielt in diesen Tagen (und damit wurde dann das theoretische Wissen über die blutige Niederschlagung der Unruhen von 1953 und 1956 mit praktischem Erleben ergänzt) seine Prägung und lässt mich sehr distanziert und mit wenig Verständnis die üblichen Diskussionen „Es war doch gar nicht so schlecht“ und wirklichkeitsfremde Filmverherrlichungen verfolgen.

ABER: Tschechien und die Slovakei haben natürlich jede Menge interessante Dinge zu bieten, und irgendwann werde ich vielleicht auch dazu mal ein paar Erinnerungen formulieren ... nur passt dies in diesem traurigen Zusammenhang nicht her. Also sorry, wenn es zu politisch gewesen ist, aber das ist immer das, was mir beim Gedanken an die CSSR zuerst einfällt!



Internetverweise

* Der Trabant 601 (http://de.wikipedia.org/wiki/Trabant_(Pkw))
* Der Fotograf des Prager Frühlings (http://www.stern.de/unterhaltung/fotografie/:Koudelka-Prager-Fr%FChling-Es-Land/607163.html?nv=rss)
* Informationen zum Prager Frühling (http://www.exil-club.de/dyn/9.asp?Aid=54&Avalidate=596691310&OAid=38&OAva=880520045&cache=37624&url=58141%2Easp&cache=39425)
* Böhmen (http://www.deutsche-schutzgebiete.de/kuk_boehmen.htm)


Der Bodybuildingtyp bin wirklich ich ....und die Rechnung über 33 Kronen ist eine Gaststättenrechnung, unglaublich!

andreanamou
6.March.2008, 13:03
Danke Dir, Spotty!!

....und bei der Gelegenheit auch ausdrücklich Dir, Michael, für Eure Erinnerungen an die unaussprechliche EX.....

Das hilft mir sehr, die Gemütslage der Menschen damals zu verstehen.
Meine Eltern haben "Das Gebilde" Gott sei Dank frühzeitig genug verlassen, aber ich bin als Kind jährlich zum Verwandtenbesuch in Greiz verdonnert worden; meine Erinnerungen an Eure Heimat sind lückenhaft, eigentlich ein einziges Schwarzweißphoto-wirklich- wenn ich an meine Ferien im "Jenseits" denke, sind alle Bilder so grau----und kalt war´s.....

Ich frage mich oft, wie diese bedrückende Zeit noch heute Euer Leben bestimmt...
Wenn ich Eure Berichte lese, wird´ immer so eng...und ich kriege jedesmal Beklemmungen.

Andreanamou