Endlich!
Acht Uhr abends, wie so oft, wenn wir uns auf die große Reise begeben, nieselt es, der Herbst kommt mit Macht. Es riecht nach nassen Blättern, wenn wir in einem Monat wieder hier sind, hat sie der Wind in alle Richtungen zerstreut.
Der Wettermann im Radio macht uns wenig Hoffnung auf besseres Reisewetter, zehn Grad, morgen soll es besser werden. Was uns allerdings nicht interessiert, denn morgen sind wir eine Welt weit weg von zu Hause.
Wir fahren heim, heim nach Griechenland!
Wir sitzen im Auto, Aufbruchsstimmung, leicht nervös, haben wir wirklich an alles gedacht? Herd ist aus, Papiere, Tickets, Karten? Alles da. Okay, dann kann es losgehen. Durch die nächtliche Vorstadt, alle Gehsteige sind schon hoch geklappt, nur ein Jogger rennt sich die Lunge aus dem Hals.
Hoffentlich hält der neue Gebrauchte, er hat ja auch schon hunderttausend Kilometer runter. Wird er schon, er war ja noch zur Inspektion.
Autobahn Richtung München, Tempo 140, es hört auf zu regnen und der Mond spitzt ein bißchen zwischen den Wolken durch, so macht das Fahren Spaß. Wir unterhalten uns über die letzten Tage, Streß im Job, was mußte nicht noch alles ganz schnell fertig werden...
Doch mit jedem Kilometer entfernen wir uns weiter vom Alltag.
München lassen wir rechts liegen, die Allianz-Arena rot beleuchtet. Die Umgehung zieht sich ewig, ich muß eine rauchen. Doch leider beginnt es wieder zu regnen, es ist ungemütlich auf dem Parkplatz, die Rauchpause dauert nur kurz.
Halb zwölf, Europabrücke, nächste Pause. Meine bessere Hälfte ist hungrig und der Wagen durstig. Durch die Sandalen – schließlich fahren wir ja nach Hellas – pfeift ein verdammt kalter Wind. Der nette Tankwart meint, gestern habe es zum ersten Mal geschneit. Und auf den Bergen lassen sich die weißen Gipfel erahnen.
Hier ist es auch schön, denke ich mir, warum verbringst du deinen Urlaub nicht einmal in den Bergen? Ganz einfach, erwidert mein Alter Ego, weil du den Griechenlandvirus in dir hast, und das seit über zwanzig Jahren. Da macht man nicht einfach nur Urlaub – und schon gar nicht woanders.
Es ist wirklich kalt, knapp über Null, wir ziehen weiter. Den Brenner hoch, kein Stau an der Mautstelle, schließlich es Ende September, Donnerstag kurz vor Mitternacht. Dafür haben wir den obligatorischen Nebel, der gierig das Licht der Scheinwerfer verschlingt. Rechter Hand liegt der Brennersee in der milchig schwarzen Nacht.
Bienvenuti in Italia, Mitternacht. Darauf habe ich fast ein Jahr lang gewartet. Ganz nach alter Tradition schiebe ich die Eric-Clapton-Kassette hinein – ich und mein Wagen bzw. dessen Musikanlage sind noch von altem Schrot und Korn.
After Midnight, der Song ist uralt, aber immer noch verdammt fetzig. Ich bin topfit. Den Brenner runter, es zieht sich. Mal ist mir zu warm, dann wieder zu kühl, der Besten aller Reisebegleiterinnen stört das nicht – sie schläft.
Tempo 110 kann ganz schön einschläfernd sein aber die Carabinieri verstehen bei Tempoverstößen, auch mitten in der Nacht, keinen Spaß. Dafür ist mein Freund, der Mond, wieder da, dessen Licht die Umrisse der Alpengipfel gegen das schwarze Firmament zeichnet. Die Franzenfeste – hell erleuchtet, hier und da ein Haus oder Gehöft am Hang, eine einsame Laterne leuchtet.
Es riecht nach Äpfeln. Pause in Südtirol, die dritte. Ein Käffchen aus der Dose – dieses neumodische Getränk weckt Tote auf – und eine Selbstgedrehte wecken die Lebensgeister um zwei Uhr nachts. Noch ein bis zwei Stündchen will ich fahren, bevor ich mich aufs Ohr hauen werde. Also, weiter.
Wo sind wir, fragt meine schläfrige Beifahrerin. Wir stehen im Stau, kurz vor Bologna. Nach vielen Jahren hat es uns wieder mal erwischt, aber daß dies gerade jetzt, um halb vier Uhr morgens geschehen muß, paßt nun so gar nicht in mein Konzept.
Eigentlich wollte ich jetzt eine Runde schlafen, statt dessen stehe ich auf der dreispurigen Autostrada und rauche zuviel. Natürlich ohne gelbe Warnweste, die liegt ganz unten im Kofferraum, genau dort, wo sie auch hingehört.
Um uns herum ist Party, die Italiener nutzen die unfreiwillige Pause für ein Fußballspiel zwischen den parkenden Autos, oder drehen ihre Anlagen auf Anschlag. Gelbe Westen – Fehlanzeige, fast schon ein bißchen griechisch, aber eben nicht Griechenland. Die Nacht ist ungewohnt mild, es riecht nach Süden. Nach einer quälend langen Stunde geht’s endlich weiter.
Der Morgen graut und verdrängt die nicht enden wollende Finsternis. Die Sonne zieht hinter den weißen, dünnen Schleierwolken ihre Bahn, noch einhundert Kilometer bis Ancona.
Halb sieben Uhr, Ausfahrt Ancona. Alle Felder sind schon abgeerntet, auch in Bella Italia zieht der Herbst ein. Die Morgentemperaturen liegen zwar höher als bei uns, aber nur mit T-Shirt ist es zu dieser Tageszeit einfach noch zu frisch.
An der neuen Raststätte am Zubringer legen wir eine Kaffeepause ein. Der Geheimtip vom letzten Jahr ist aber leider keiner mehr, auch die Trucker haben die saubere und günstige Haltemöglichkeit für sich entdeckt, es geht zu wie im Taubenschlag. Dazu kommen noch alle Carabinieri aus der Umgebung, die sich hier, wie wir auch, ihren Espresso schmecken lassen.
Sieben Uhr, Ancona-Hafen. Ich bin müde - nein ich bin kaputt - eimai ptoma - nach elf Stunden Fahrt inklusive Stau und Pausen für rund eintausend Kilometer. Warum tue ich mir das bloß jedes Jahr immer wieder aufs Neue an? Und jetzt müssen wir auch noch vier bis fünf Stunden auf die Fähre warten.
Aber – nach einigem Überlegen fällt mir der Grund wieder ein. Es geht heim, heim nach Griechenland!
Im Hafen ist nichts los, ein Schläfchen im Auto, dann steht der lästige Ticketkram an. Natürlich stehe ich wieder mal in der falschen Schlange, nämlich in der, wo gar nichts geht. Streikt der Computer, oder der Angestellte, gibt es Verständigungsschwierigkeiten, ich weiß es nicht. Irgend wann halte ich die Bordingcards dann doch in den Händen, jetzt noch einen Dosenespresso und das letzte muffige Brot aus der inzwischen aufgewärmten Kühlbox.
Die Minuten werden zu Stunden, bis dann endlich die Fähre einläuft. Majestätisch schaukelt sie sich in den Hafen. Wie schon so oft, geht noch kurz ein Schauer über Ancona nieder, im Auto beschlagen alle Scheiben, es ist schwül-heiß.
Wie angenehm ist dagegen die klimatisierte Kabine, kurz nach zwölf Uhr wähnen wir uns schon im Paradies. Dabei sind wir davon – von unserem Paradies – noch eine Überfahrt weit entfernt.
Nächster Tag, sechs Uhr morgens, der schönste Tag des Jahres. Man soll es nicht glauben, aber ich stelle auf dem Schiff den Wecker. Nach einer äußerst erholsamen Nacht, will ich den schönsten aller schönen griechischen Momente nicht verpassen.
Warum ich so früh aufstehe, es ist zuerst einmal der Morgenspaziergang an Deck, da habe ich die Fähre fast für mich alleine. Die Deckspassagiere schlafen noch, nur der schwarze, zottige Hund von gestern Abend blinzelt schläfrig mit einem Auge. Soll das eine Aufforderung zum Streicheln sein, ich trau ihm nicht.
Und jetzt kommt er, dieser magische Moment. Die Sonne geht auf, über den Bergen Albaniens, ganz groß und tief rot sendet sie ihre ersten wärmenden Strahlen über das Meer – genau zu mir. Die Gischt spritzt bis zur Reling herauf, die Luft riecht salzig, eben so, wie sie riechen muß, wenn man auf See ist.
In der Bar klappern die Tassen, Kontrastprogramm am Morgen. Es duftet nach Kaffee, oh, so ein Kaffee weckt die Lebensgeister. Bald sind wir da.
Elf Uhr, die Durchsage, drei- oder viersprachig, ist eh egal, was da aus den Lautsprechern quäkt, am Horizont erkennen wir die Silhouette von Patra, se misi ora, und so weiter, schon zig-mal gehört, die ersten Handys klingeln, alle plappern durcheinander, Griechenland eben!!!
Ich warte im Schiffsbauch beim Auto, meine Liebste ist über die Gangway bereits im Land meiner Träume, quälend lange Minuten ziehen sich wie Kaugummi. Die Ersten lassen schon die Motoren an, sind die auch so ungeduldig wie ich? Die durchdringende Sirene der unteren Garage kündigt die baldige Öffnung der Rampe an.
Ein anderes, mein zweites Leben erwartet mich, getrennt nur noch durch ein bißchen Stahl. Ich lasse alles Gewohnte hinter mir zurück, Familie, Freunde, Kollegen, den Alltag.
Und was jetzt kommt ist ein anderes Denken, eine andere Sprache, ein anderes Zeitgefühl, ein anderes Fühlen, ein anderes Schmecken, andere Menschen – Freunde wiedersehen.
Was zieht mich eigentlich jedes Jahr hier her? Wie ein Magnet, ich kann nicht anders. In Gedanken lebe ich das ganze Jahr über hier. Wer Griechenland nicht kennt, wird den Grund dafür nie verstehen.
Ist es der unendliche Horizont, wo das tiefblaue Meer mit seinen glitzernden weißen Schaumkronen mit dem klaren, azurnen Himmel zu einer Einheit verschmilzt, die Berge, die von schneeweißen Wolken wie Zuckerwatte umschmeichelt werden, der warme Wind, der sanft über die Haut streichelt, die Sonne mit ihrem strahlenden Licht, diesem einzigartigen, gleißenden Licht, das keine Geheimnisse verbirgt.
Blau, wo man hinsieht, eine Orgie von Gefühlen, jeder Stein atmet Geschichte. Oder ist es die Gastfreundschaft, die es entgegen vieler Meinungen immer noch gibt, wenn man die Begegnung sucht, vorsichtig auf die Menschen zugeht, ist es das?
Oder vielleicht das Gefühl von Freiheit, Durchatmen können, nicht jede kleinste Kleinigkeit geregelt? Bestimmt, aber es gibt noch etwas Anderes, etwas ganz Entscheidendes.
Wie lange dauert das denn noch?
Ich fahre die Rampe runter, ich könnte weinen vor Glück und jetzt merke ich es ganz deutlich. Es ist der Geruch, dieser unbeschreibliche Geruch nach Griechenland, der mir bedeutet, ich bin angekommen, daheim, dort, wo meine Seele wohnt.
Endlich - epitelous !